04.05.2020, 10:36

Unser Autor Albert T. Lieberg hat sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise eingehend befasst. Angesicht der aktuellen Situation betrachtet er einen Systemwechsel immer weniger als Utopie, sondern immer mehr als existentielle Notwendigkeit:
»Zugegeben, es ist schwer kühlen Kopf zu bewahren, in dieser historisch außergewöhnlichen Situation, in der wir uns alle befinden – ja alle, in Deutschland, in Europa, Amerika, Asien, Afrika, überall auf diesem Planeten, den wir miteinander teilen. Die Bedrohung durch das Coronavirus, aber viel mehr noch durch dessen gesellschaftliche Folgewirkungen ist global.«

 

Der Systemwechselimmer weniger Utopie, immer mehr existentielle Notwendigkeit

WIE CORONA DEN MENSCHEN AUFKLÄRT

von Albert T. Lieberg* – 1. Mai 2020

Zugegeben, es ist schwer kühlen Kopf zu bewahren, in dieser historisch außergewöhnlichen Situation, in der wir uns alle befinden  –  ja alle, in Deutschland, in Europa, Amerika, Asien, Afrika, überall auf diesem Planeten, den wir miteinander teilen. Die Bedrohung durch das Coronavirus, aber viel mehr noch durch dessen gesellschaftliche Folgewirkungen ist global.

Was bewirkt diese Ausnahmesituation, und ich meine damit zunächst nicht die Ausgangsbeschränkungen und andere, für uns radikale Einschränkungen unserer Freiheit, der Freiheit wie wir sie bislang gewöhnt waren. Ich meine die angebliche Bedrohung unser aller Gesundheit, aber vor allem in direkter Konsequenz die sich daraus ergebene reale Bedrohung unserer Arbeitsplätze, unseres Geldeinkommens, unserer Ersparnisse, also unserer Lebensgrundlage, die Bedrohung unserer Wirtschaftssysteme, von denen wir alle abhängen, ob als Einzelperson, Familie oder als Gesellschaft, als Staat.

Die Nachrichten, die uns jeden Tag, ja stündlich erreichen, aus jedem Winkel unseres Landes, aus den Nachbarländern, aus der ganzen Welt, sind ernst. Die Menschheit, geführt von Regierungen, versucht sich diesen Bedrohungen entgegen zu stellen. Bevölkerungen werden weltweit aufgerufen, ja beordert, möglichst zuhause zu blieben, physische soziale Kontakte zu reduzieren, die meisten nicht lebensnotwendigen wirtschaftlichen Aktivitäten, die nicht über das Internet durchzuführen sind, auszusetzen oder zu reduzieren, mit dem Ziel dazu beizutragen, die Ausbreitung des Virus zu entschleunigen. Es wird appelliert und verordnet, diszipliniert zu sein, sich an die neunen Verhaltensregeln zu halten, auch mit Androhung von Strafen, von Überwachung. Die Menschen sollen sich im Sinne der Gesamtgesellschaft verhalten, sich solidarisch mit Alten und Schwachen zeigen. Es wird versucht, Kapazitäten zu erhöhen, um (erwartete, auch bei neuen möglichen Infektionswellen) steigende Zahlen von Erkrankten medizinisch versorgen zu können, ob es die Kapazitäten von Krankenhäusern sind oder die Beschaffung von Materialen zum Schutz der Menschen und zur medizinischen Behandlung. Die primäre Versorgung der Menschen steht an erster Stelle, Gesundheit, Lebensmittel, öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen. Gleichzeitig verkünden Regierungen Hilfsprogramme, um trotz der drastischen wirtschaftlichen Drosselung, das Geldeinkommen der Menschen zu garantieren, aufrecht zu erhalten, zumindest teilweise, um Selbstständige, Betriebe und Unternehmen finanziell zu unterstützen, damit diese nicht in den Konkurs gehen müssen, um einen drohenden breitflächigen Niedergang des Wirtschaftssystems abzuwenden. Der Staat und die Gesellschaft sind mobilisiert, in einer Weise wie wir es in der Neuzeit unserer Geschichte noch nicht gesehen haben – so scheint es.

Womit müssen wir rechnen, worauf müssen wir uns einstellen

Die Wirtschaft wird planetarisch auf ein Minimum heruntergefahren, wie lange dies so bleiben wird, so bleiben muss, ist noch unbekannt, hängt von vielen Unbekannten ab. Aber auch wenn in einigen Ländern viele wirtschaftliche Aktivitäten stufenweise bereits wieder grünes Licht bekommen, so müssen wir uns, je nach Land und Region, weltweit auf eine lange Periode des wirtschaftlichen Kriechgangs vorbereiten, zumindest über viele Monate, wenn nicht Jahre. Der Internationale Währungsfond (IWF) und andere führende Wirtschaftsinstitute prophezeien die schwerste Weltwirtschaftskrise seit den 1920er Jahren. Schon jetzt schießen in unzähligen Ländern die Zahlen der Arbeitslosen in die Höhe, Dutzende von Millionen von Menschen, verlieren weltweit ihren Job, ihre Einkommensquelle – die ILO (internationale Arbeitsorganisation der UN) schätzt, dass die rasant heruntergefahrene Weltwirtschaft zurzeit die Einkommenslage von bis zu 2.7 Milliarden der arbeitenden Menschen weltweit negativ beeinflusst (mehr als 80% der Weltarbeitskraft), durch Betriebsschließungen, Einschränkungen im Betriebsablauf und anderen Unterbrechungen im Wirtschaftskreislauf. In den ökonomisch weiter entwickelten Ländern – vor allem Europa, Nordamerika, die Industrieländer Asiens – melden sich Massen von Menschen bei den Arbeitsämtern, bei den Sozialkassen, fordern Unterstützung, Geld, um nicht in Armut abzurutschen, ja um überleben zu können. Das Herunterfahren der Wirtschaft, der Produktion, das befohlene Schließen vieler Geschäfte oder das nur limitierte Wiederaufnehmen von Wirtschaftsaktivitäten, die Notwendigkeit eher zu Hause zu bleiben, lässt die Nachfrage, den Konsum nach Gütern und Dienstleistungen einbrechen. Nur die Lebensmittelbranche, der medizinische Sektor, und das Onlinegeschäft, und hier vor allem Konzerne und Unternehmen der Unterhaltungs-, Bildungs- und Gesundheitsbranche können sich halten, sogar teils gewaltige Gewinne einfahren.

Noch stehen wir am Anfang einer schon jetzt in der Geschichte des Menschen beispiellosem Epoche  –  in den erwähnten reicheren Ländern des Erdballs werden Gehälter und Löhne vielleicht (zunächst) noch weitergezahlt, in der Privatwirtschaft, vom Staat, der öffentlichen Hand, oft ohne Leistung/Arbeit als Gegenwert, in der Hoffnung, alles würde sich schnell wieder finden, der Normalzustand bald wieder Realität werden. Wie lange kann das gut gehen – solange es Reserven gibt, finanzielle Reserven, solange Selbstständige Ersparnisse, Unternehmen Rücklagen haben, der Staat noch solvent ist und Vermögen hat, oder sich besorgen kann (Verschuldung), um mit Überbrückungshilfen den Wirtschaftsakteuren zur Seite zu stehen, die ökonomische Grundlage einer Nation aufrecht zu erhalten, den Arbeitslosen, den Bedürftigen, aber zunehmend auch immer mehr einer breiten Mittelschicht Ihre Versorgung durch Transferzahlungen und Sozialleistungen eine Lebensgrundlage zu sichern. Aber was ist mit den anderen, den allermeisten anderen Ländern unseres Planeten, dort wo Gesellschaft und Staat weniger reich, ja oft genug arm sind, wo Menschen selbst in Normalzeiten nur davon träumen können, dass jemand anderes, Institutionen, sie in prekären Zeiten auffangen, unterstützen, wo Lohnfortzahlung oder Kurzarbeitergeld Illusionen sind, nicht zu sprechen von Krediten zu speziellen Konditionen oder gar Geldschenkungen des Staates an die Bürger (wie es in den USA und in Europa diskutiert wird und in einigen Ländern schon begonnen hat), wo das Privatvermögen minimal ist oder schlichtweg inexistent, und wo beim Wegfall der wirtschaftlichen Aktivität, beim Verlieren der Arbeit, des Geldeinkommens, von einem auf den anderen Tag die Menschen vor dem Nichts stehen. Nicht nur in Riesenstaaten wie Indien, nein in den allermeisten Ländern unserer heutigen Welt hängt es davon ab, ob man Geld hat, genug Geld hat oder nicht, um sich im Krankenhaus pflegen zu lassen –  Geld und Vermögen walten hier über Leben und Tod. All dies ist die Realität für das Gros der Menschheit auf diesem Planeten und das nicht erst seit Corona. Hier kommt es bei einem Zusammenbruch der Wirtschaft, und wir beobachten dies schon jetzt in vielen von Corona betroffenen Ländern, zu rasch astronomisch ansteigenden Armutsraten, gefolgt von Kriminalität jeglicher Art als oft einziges Instrument des Überlebens. Dies kann zu massiven sozialen Unruhen führen, bis hin zu einer undemokratischen Machtübernahme und/oder sich entwickelnden autoritären Führungsstrukturen, selbst in Ländern, in denen wir dies heute nicht erwarten würden –  auch hierfür gibt es bereits erste Anzeichen.

Und sind wir, in Deutschland, in Europa, in Amerika, in den Industrieländern Asien vor solchen Szenarien gewappnet? Was ist, wenn die Krisensituation sich in die Länge zieht, vielleicht sogar verschärft, wenn sich über viele Monate, im schlimmsten Falle vielleicht Jahre, eine Rückkehr in ein normales Leben, in ein normales Wirtschaftsleben, wie wir es vor Corona kannten, nicht bewerkstelligen lässt, weil die Gefahr einer andauernden (angeblich) lebensbedrohlichen Gesundheitssituation dies nicht zulässt, oder, und dies viel wahrscheinlicher, weil große Teile der Wirtschaft sich nicht, oder viel zu langsam erholen, weil die Nachfrage nach nicht existentiellen Gütern und Dienstleistung zu gering ist, die Kaufkraft, und das Vertrauen der Menschen in die Märkte und in die Zukunft zu schwach sind? Und, nicht nur die deutsche Wirtschaft ist kritisch abhängig vom Außenhandel in einer hochsegmentierten und vernetzten Weltwirtschaft. Andere Länder müssen Ihre Kaufkraft erhalten, um deutsche Produkte kaufen zu können. Unzählige Wertschöpfungs- und Lieferketten, und aus Gründen der Gewinnoptimierung ins Ausland ausgelagerte Zulieferindustrien, haben uns abhängig, ökonomisch verletzbar gemacht. Je mehr andere Länder, mit denen wir geschäftlich verflochten sind, nicht nur die USA und in Europa, vom Virus induzierten wirtschaftlichen Niedergang betroffen sind (und dies scheinen die meisten zu sein), desto mehr könnte es auch Deutschland in die Knie zwingen – ein Teufelskreis zwischen ausbleibender Nachfrage/Konsum, fehlenden Investitionskapazitäten und  wachsender Arbeitslosigkeit und Vermögensverfall.

Die deutsche Regierung hat hohe Rücklagen, kann das Land eine Weile auch ohne Wachstumsökonomie über Wasser halten, aber wie lange? Rekordneuverschuldung wird in Kauf genommen, auch die europäische Zentralbank, die europäische Investitionsbank, der Internationale Währungsfond (IWF), die Weltbank, werden Rücklagen frei legen (müssen), werden astronomisch hohe Kredite und Darlehen an Staaten vergeben, Staatsanleihen vermitteln. Dies hat schon im großen Stil begonnen, nicht nur innerhalb der EU – über 100 Staaten haben bereits formell den IWF um finanzielle Unterstützung im Zusammenhang mit der Coronapandemie gebeten. Doch irgendwann müssen die Motoren der Wirtschaft, des Wachstums, der Steuereinnahmen, der Schuldentilgung wieder anspringen, sonst kommt es nach dem wirtschaftlichen zum finanziellen Kollaps. Absurderweise, und aus einer antizipierten Panik geboren, fordern einige jetzt schon die Gelddruckmaschinen in Gang zu setzen, als notwendige Maßnahme einer „Kriegsökonomie“ (Trump). Letzteres würde kurzfristig helfen, über einen längeren Zeitraum jedoch zu einem Zusammenbruch des Geldwertes und zu einer flächendeckenden Hyperinflation, und damit zur wirtschaftlichen und sozialen Apokalypse führen. Ein Szenario, das sich kaum einer vorstellen kann, der nicht selber die Realität beispielsweise eines Weltkrieges erlebt hat – und wer von uns hat diese Erfahrung. In einer solchen Apokalypse würde der monetäre Handel, der Geldwert, ersetzt werden durch den Tauschhandel. In Extremis, wenn die Menschen und Nationen es dann nicht schaffen sollten, neue nachhaltige Konzepte des Zusammenlebens zu entwickeln und gemeinsam umzusetzen, könnte es zu einer postindustriellen Steinzeit kommen, in der Staaten auseinanderbrechen und es schlussendlich nur zwei existentielle Werte gibt, nämlich Ackerland, um dort Nahrungsmittel anzubauen, und Waffen, um dieses Ackerland vor anderen verteidigen zu können.

Es ist zu hoffen, dass wir alle eine solche Entwicklung nicht erleben müssen, dass dies weiter nur eine Fiktion bleibt, ein Horrorfilm, doch ist ihr Eintreten in keinster Weise eine völlig absurde Vorstellung unserer Evolution. Es wird an uns liegen, in Zukunft die Weichen so zu stellen, dass die existentielle Versorgung der Menschen, ein solidarisches Verhalten, nachhaltiges Wirtschaften und der Weltfriede auf diesem Planeten zur Normalität werden und unter keinen Umständen mehr gefährdet werden können.

Wie verändern sich unser Verhalten, unsere Werte

Es ist zu früh jetzt schon von definitiven Änderungen unseres Sozialverhaltens zu sprechen. Wir sehen, lesen und hören von der Solidarität der Menschen mit Kranken- und Altenpflegern, Ärzten, denjenigen, die unsere Erkrankten, die Schwächeren, Obdachlose betreuen, sich aufopfern, oft genug ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, für uns, für die Gesellschaft, und das ohne irgendeinen zusätzlichen finanziellen Gegenwert für ihre erbrachte Arbeit. Wir sehen wie Nachbarn, die sich bislang gerade mal vom Sehen kannten, sich plötzlich gegenseitig helfen, gemeinsame Initiativen starten, um das Leben zuhause, in den Wohnhäusern, angenehmer zu gestalten. Wir erfahren von Unternehmen, die Lebensmittel an Bedürftige spenden, von Taxifahrern, die Angestellte von Krankenhäusern und Pflegeheimen gratis zur Arbeit fahren. Wir lesen von Unternehmern, die ihre Produktion umstellen auf existentielle Güter, die dringend benötigt werden. Menschen melden sich, um freiwillig, und teils selbst unentgeltlich zu arbeiten, in den existentiellen Sektoren, in der Pflege, in der Landwirtschaft – sicher, solange diese sich selbst noch einen Mindestlebensstandard erlauben können oder der Staat dafür sorgt. Es wird von manchen ein neues Verständnis des Miteinanders suggeriert, von neuen Werten, die das Allgemein-, das Gemeingut plötzlich in den Mittelpunkt rücken.

Es sind „gerade“ einmal sechs Wochen vergangen, seit wir in diese neue Realität eingetreten sind. Noch ist ein solcher Zustand recht neu für uns, einige wenige scheinen diesen sogar zu verromantisieren, zu verklären, als Einstieg in eine neue, eine friedliche, solidarische Gesellschaftsentwicklung. Noch funktioniert die Versorgung, noch haben die meisten von uns, hier im Westen, in der sogenannten entwickelten Welt die nötigen finanziellen Mittel, Garantien, selbst vom Staat. Doch die soziale Isolation, die Ausgangsbeschränkungen, die Angst vor Krankheit, Tod, Bevormundung und Demokratieabbau, und vor allem bevorstehender Armut, vor der Zukunft, wird schnell ihren Tribut zollen, psychologisch und gesellschaftlich – und hat es schon, nur wird darüber weniger berichtet, noch. Wie wird es nach einer weiteren Woche aussehen, nach einem weiteren Monat, nach Monaten? Wir hören immer mehr von wachsender häuslicher Gewalt, von zunehmender Depression, Alkohol- und Drogenkonsum, von Verzweiflung, Verzweiflungstaten derjenigen, die in vielen Ländern vor dem nichts stehen, kein Geld mehr haben, um sich das Nötigste zu kaufen, um selbst Grundbedürfnisse zu decken. Ein de facto Demonstrations- und Versammlungsverbot, das die ausgeübte Meinungsfreiheit drastisch einschränkt, die Vorschläge einer gesellschaftlichen Überwachung (Erhebung persönlicher Daten durch spezifische Apps und während der Nutzung von Internet und Smartphone, Kontrollsysteme durch Drohnen und flächendeckende Kameraüberwachung, digitale (Gesundheits-) Identitätsausweise, und mehr), sowie in China entsprechende, schon umgesetzten Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus besser verhindern und seine Charakteristika besser verstehen zu können, werden nicht von allen als gut empfunden, sondern von vielen als eine Gefahr und Einfallstor zu einem modernen, autoritär geprägten Überwachungsstaat betrachtet. Die mittelfristige, und möglicherweise langfristige Einschränkung von physischen sozialen Kontakte wird in zunehmendem Maße die schon vor Corona existierende allgemeine Tendenz zur individuellen Vereinsamung in unseren sogenannten modernen Gesellschaften weiter verschärfen, mit all seinen gesundheitlichen, psychischen, und sozialen Folgewirkungen. Kein Zweifel, es wird zu schweren gesellschaftlichen Verwerfungen kommen. Menschen werden ausbrechen, werden ihre Freiheit einfordern, selbst wieder darüber bestimmen wollen – der Protest und die Unmut wachsen. Mehr und mehr Menschen fordern schon jetzt den Schutz vor Armut, die Aufrechterhaltung von (auch sozialer) Lebensqualität und Freiheitsrechten vor das Grundrecht auf Leben als absoluten Wert zu stellen – selbst der konservative Bundestagspräsident Schäuble und Vertreter von Religionsgruppen äußerten sich bereits in dieser Richtung.

Spätestens wenn die finanziellen Reserven der Menschen und der Staaten sich mehr und mehr reduzieren werden, wird es endgültig vorbei sein mit jeder suggerierten Romantik – jeder wird sich selbst am nächsten sein, der Sozialdarwinismus in realita. Schon jetzt gibt es immer mehr Hinweise auf solche Verhaltensmuster, nicht nur im menschlichen Miteinander (der Egoismus im Supermarkt, Streit und Gewalt in Wohnhäusern, eine steigende Petz- und Verleumdungskultur im Zusammenhang mit dem Einhalten oder nicht von Ausgangs- und Verhaltensbeschränkungen, und ähnliches), sondern ganz öffentlich ausgetragen in der Politik – Schuldzuweisungen, nationale, meist nicht miteinander abgestimmte Alleingänge der Krisenbewältigung quasi aller Länder weltweit, nationale Strategien zur möglichst raschen wirtschaftlichen Benachteiligung anderer konkurrierender Länder in einem post-Corona Szenario, die fehlende oder halbherzige Solidarität reicherer Nationen, nicht nur innerhalb der EU, mit ärmeren Ländern.

Was ändert sich gerade in der politischen Wahrnehmung

Vieles, ohne Frage. Bis noch vor wenigen Wochen wäre es völlig unvorstellbar gewesen, dass Präsidenten und Regierungschefs, führende Politiker, zumal mit eigentlich konservativen Überzeugungen, von Staaten der sogenannten ersten Welt, die über Generationen der Doktrin der freien Marktwirtschaft gefolgt sind, plötzlich die Notwendigkeit sehen, einige ideologische Überzeugungen und fundamentale Elemente unserer Wirtschafts- und Sozialstrukturen zu hinterfragen und politische Instrumente diskutieren, ankündigen und teils auch umsetzen, die zumindest überraschen. Der französische Präsident Macron sprach offen davon, dass lebensnotwendige Sektoren, wie die Versorgung mit existentiellen Lebensmitteln, mit pharmazeutischen und medizinischen Produkten nicht mehr allein dem Markt überlassen werden dürfen. Der Gouverneur von New York forderte öffentlich die Verstaatlichung des Gesundheitswesens, der bayrische Ministerpräsident Söder und andere erwägen im Extremfall die Beschlagnahmung von Gütern (aus der Privatwirtschaft), US Präsident Trump befiehlt privaten Großkonzernen, was sie produzieren sollen (zum Beispiel soll der Autoriese General Motors jetzt u. a. Atemgeräte im Rekordtempo herstellen). Es wird plötzlich als politisch akzeptabel angesehen, wenn Menschen und auch Betriebe ihre Mietzahlungen an die Besitzer von Wohnungen und Gebäuden nicht mehr zahlen (weil die Mieter keine Einnahmen mehr erzielen) – undenkbar noch vor wenigen Wochen. Streng wirtschaftskonservative Staaten wie die USA und Deutschland arbeiten daran, im großen Maße ihren Bürgern Geld oder Tauschmarken (Lebensmittel) zu schenken, und haben teilweise schon damit begonnen. Menschen melden sich freiwillig zur Arbeit, um das gesellschaftliche, das kollektive Wohl zu unterstützen, nicht um finanzielle Einnahmen zu erzielen. Aber man beobachtet auch gefährliche Veränderungen der politischen Wahrnehmung – die Mehrheit der Bürger ruft nach dem starken Staat, viele sind bereit selbst über Generationen errungenen Demokratie- und Freiheitsrechte zum proklamierten Schutz der Allgemeinheit (zumindest vorrübergehend) auszusetzen, Beispiel Versammlungsverbot oder Meinungsfreiheit (Diskriminierung und Ausgrenzung Andersdenkender). Dennoch, es scheint sich ein schüchterner Konsens darüber zu formieren, dass die Befriedigung existentieller gesellschaftlicher Bedürfnisse eine rationale, auf Bedarf (nicht auf finanziellen Gewinn) ausgerichtete Planung und Kontrolle durch die Gesellschaft selbst erfordert. All dies lässt keinen Zweifel daran, dass ein bislang (angeblich) nicht zu bändigendes Virus das Potenzial hat, Diskussionen über Möglichkeiten grundsätzlicher politischer Veränderungen in die Mitte der Gesellschaft zu katapultieren. Weder Weltwirtschaftskrisen, noch Weltkriege sind in der Lage gewesen ähnlich tiefgreifende Vorstellungen in die Perspektive politischer Wirklichkeit zu rücken – dies war bislang nur Revolutionen vorbehalten.

Erste Schlussfolgerungen einer erzwungenen Aufklärung

Für viele von uns hier in der angeblich sicheren westlichen Welt ist es eine ganz neue Erfahrung, die wir hautnah erleben. Der notwendige Schutz vor Krankheit und Tod steht plötzlich – auch gezwungenermaßen durch Anordnungen des Staates – an erster Stelle unserer Prioritätenskala, nicht mehr die Urlaubsreise, das neue Auto, das Smartphone, die Eigentumswohnung, nicht einmal das Essengehen mit Freunden und Familie, nein alles dreht sich nur noch darum, wie man es vermeiden kann, bloß nicht krank, vom Virus erwischt zu werden (sowie andere damit anzustecken). Und ganz klar an  zweiter Stelle, möglicherweise bald schon an Erster in der Prioritätenskala, steht es, finanziell über Wasser zu bleiben, möglichst seinen Job, seine Arbeit nicht zu verlieren, nicht endgültig zu verlieren, das eigene Geld, die Ersparnisse zu schützen, bloß nicht pleite zu gehen, um nicht in die Armut abzurutschen, echte Armut, wie viele von uns sie nur aus dem Fernsehen kennen, Bilder anderer Länder. Wir verstehen jetzt das Essentielle  –  sicher, wir haben immer schon geglaubt, dass wir das wussten, schon vorher – worum es als biologische Wesen geht, als Mitglieder eine Gesellschaft, ja auch einer Weltgesellschaft. Wir hatten es gesellschaftlich schon vergessen, dass wir nicht mehr, nicht weniger sind, als sehr verwundbare biologische Geschöpfe aus Fleisch und Blut. Unsere technologischen und wirtschaftlichen Errungenschaften, unser modernes Leben, unser Wohlstand haben diese einfache, aber wesentliche Erkenntnis unseres Seins in den Schatten gestellt, in die Abstellkammer der Wahrnehmung.

Aber Corona zwingt uns auch zu erkennen, dass wir nur als Gemeinschaft großen Herausforderungen gewachsen sein können, vor allem denjenigen, die sich nicht durch Geld und Kapital allein bewältigen lassen, wenn alle ihren Teil dazu beitragen, wenn sich jeder, oder die meisten, an die Regeln halten, die wir uns selber als Gemeinschaft geben wollen, demokratisch, nicht verordnet. Mitgefühl, Solidarität und Dankbarkeit sind in den letzten Wochen mehr in den Mittelpunkt unserer Werteskalen gerückt, Individualismus, Egozentrismus, Materialismus, Opportunismus – wichtigste Attribute unserer kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialdoktrin – hingegen scheinen an Relevanz zu verlieren, nicht mehr wirklich gesellschaftskonform zu sein. Es mag ein kurzer historischer Moment sein, aber immerhin.

Je länger das Coronaphänomen unser Leben beherrscht, desto mehr werden wir darüber aufgeklärt, was alles möglich ist, vor allem gesellschaftlich, politisch, und eben auch wirtschaftlich. Es wird an uns selbst liegen, ob wir mutig und klug genug sind uns von jahrhundertealten angeblichen Gesetzmäßigkeiten des Miteinanderlebens und -arbeitens befreien zu können, wie insbesondere die völlige Abhängigkeit des Lebens, des Überlebens, von den Faktoren Geld und Kapital.

Was können wir jetzt schon sagen, über die Zeit nach Corona

Sicher ist, die Weltwirtschaft wird sich nur langsam erholen, die sich ausbreitende Massenarbeitslosigkeit nur langsam wieder abgebaut werden. Wir werden als Staat, als Staaten überall auf der Welt, schwächer sein als vorher, auch ärmer, finanziell. Und doch werden wir nicht nur die Folgen von Corona bewältigen müssen, sondern uns gleichzeitig auch anderen großen Herausforderungen wieder stellen müssen, die das Virus nur scheinbar in den Schatten der politischen Agenda gestellt hatte. Neben weiteren vorstellbaren Wellen von viralen und neuen bakteriologischen, sowie auch chemischen und Cyberangriffen, ob durch die Natur gewollt oder durch Menschenhand bewirkt, besteht die möglicherweise schwerwiegendste Herausforderung im fortschreitenden Klimawandel (und der Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen durch den Menschen) und die dadurch graduell ausgelöste Massenmigration von Flüchtlingen in Richtung vor allem der reicheren Staaten. Die allermeisten dieser Menschen sind keine Klimaflüchtlinge per se, sondern Wirtschaftsflüchtlinge, die ihre Lebensgrundlage, vor allem ihre Geldeinkommen verlieren. Die Auswirkungen von Corona, die sich durch eine massive Schwächung der nationalen Ökonomien zeigt und immer deutlicher zeigen wird, vor allem auch in jenen Ländern, wo ohnehin fragile Wirtschafts- und Gesundheitssysteme, brüchige demokratische Strukturen, fehlende Sicherheit, und die Folgen des Klimawandels seit Jahren schon große Probleme darstellen, viele sogenannte Drittstaaten vor allem Afrikas und Asiens, werden die Dimension und Schnelligkeit dieser Migrationsströme substanziell erhöhen. Wie können wir all diesen Menschen zu einer annehmbaren Lebensgrundlage verhelfen, und ohne unsere eigene wirtschaftliche und soziale Sicherheit zu gefährden, wie können wir in diesem Zusammenhang absehbare schwere soziale und gewalttätige Entwicklungen noch abwenden?

Es wäre leichtfertig und naiv jetzt davon auszugehen, dass die Geschichte unserer Spezies, des Homo Sapiens (der weise Mensch) und damit unseres Planeten, aus den Erfahrungen mit Corona, dieser möglicherweise langfristig schwersten ökonomischen und Identitätskrise der Menschheit fundamentale Erkenntnisse gewinnt und ein völlig neues Kapitel der modernen Evolution aufschlägt, um Krisen und Missstände unserer Entwicklung nun entschiedener anzugehen oder diesen vorzubeugen. Dennoch, es wird an uns liegen, die Zeichen unserer Zeit zu erkennen und alles daran zu setzen, Dinge besser zu tun, umsichtiger, im Interesse der Gesamtbevölkerung (weltweit), und nicht nur wenn wir in existentielle Notlagen geraten. Was könnte dabei grundlegend sein?

Medizinische Forschung und eine bestmögliche medizinische Ausstattung und Versorgung der Bevölkerung, auch im Katastrophenfall, müssen weltweit zum universellen Menschenrecht erklärt werden, befreit von der Voraussetzung existierender finanzieller Ressourcen (im Klartext, entprivatisiert und verfügbar ohne dass es Geld braucht). In ähnlicher Weise muss eine ausreichende und vollwertige Ernährung sowie der Zugang zu sauberem Trinkwasser zu einem Menschenrecht für uns alle werden, aber auch das Recht auf eine ganzheitliche (von Wirtschaft- und Staatsinteressen befreite) schulische Ausbildung, auf eine würdige Unterkunft, und das Recht auf objektive Information und unzensierte Kommunikation gehören zu unserer Vorstellung einer modernen aufgeklärten Gesellschaft. Es nützt nichts, wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen einige dieser Rechte fordert, aber gleichzeitig nicht realistisch vorgibt, wie dies konkret umzusetzen und zu erreichen ist. Sie bleiben nichts weiter als Appelle, mehr nicht, bleiben weiter verkettet mit einer Reihe von Voraussetzungen, neben dem politischen Willen, insbesondere der Zurverfügungstellung von ausreichenden finanziellen Ressourcen (Geld).

Diese neu zu definierenden Menschrechte werden wir erst dann de facto garantieren können, wenn wir ihre Gewährleistung vom Geldwert entkoppeln (entmonetarisieren), sie also kein Handelsgut, keine Ware mehr darstellen, diese Rechte Realität und verfügbar werden können, ohne dafür Geld zu benötigen (weder als Staat noch als Individuum), sie damit auch entprivatisieren und ins Gemeingut überführen, welches nur gesellschaftlich demokratisch verwaltet werden kann und darf   –   die Emanzipation jenseits des Geldwertes. Diese Art von Menschenrechten uneingeschränkt und weltweit umzusetzen, erscheint eine epochale Herkulesaufgabe und vielen als Utopie, doch hat uns Corona aufgeklärt über das Wesentliche – um große Herausforderungen angehen und auch bewältigen zu können, müssen wir anfangen unsere bis dato festen Überzeugungen über angebliche Verhaltensformen unserer Spezies und über sogenannte Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftens in Frage zu stellen und tabulos evolutionäres Neuland betreten  – diese Wochen zeigen weltweit, dass immer mehr Menschen dazu bereit sind. Spätestens seit die Folgen der Corona Pandemie immer evidenter und Prioritäten des menschlichen Zusammenlebens offen gelegt werden, erscheint vielen in unserer Gesellschaft ein Systemwechsel unserer wirtschaftlichen und sozialen Grundstrukturen immer mehr eine existentielle Notwendigkeit, und immer weniger eine Utopie.

 

* Albert T. Lieberg, geb. 1963 in Mailand, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er promovierte im Bereich Internationale Entwicklungspolitik an der Universität München. Seit über 25 Jahren arbeitet er als leitender Funktionär sowie Landesdirektor von UN Organisationen und Berater für die Vereinten Nationen, andere multilaterale Organisationen sowie als Regierungsberater mit Erfahrung in über 50 verschiedenen Ländern. Seine Arbeitsfelder beinhalten die Erarbeitung und Umsetzung von nationalen und regionalen Entwicklungsstrategien, wirtschaftlichen Investitionsvorhaben und sozialpolitischem Ausgleich. Lieberg entwickelt zudem Wiederaufbauprogramme und Maßnahmen zur Befriedung und Konfliktvermeidung, insbesondere in Krisengebieten. Zusätzlich ist er seit vielen Jahren weltweit in globalisierungskritischen Bewegungen zur Stärkung der Zivilgesellschaft und der sozialen Gerechtigkeit tätig – er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Der Systemwechsel: Utopie oder existentielle Notwendigkeit?“ (Büchner Verlag 2018).